Sergej Michalkov: Bojcy vorošilovcy. Moskva 1938. BSB-Signatur: L.sel.I 5062
Zu den antiquarischen Erwerbungen der Osteuropasammlung der Bayerischen Staatsbibliothek in den letzten Jahren zählen einige seltene Kinderbücher, welche die eigens auf Kinder zugeschnittene Militär- und Kriegspropaganda der Jahre 1938-1945 eindrücklich dokumentieren.
Sowjetunion 1938
Die ideologische Aufrüstung im sowjetischen Kinderzimmer begann bereits im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. 1938 erschien in Moskau ein dünnes Oktavbändchen für Kinder im Vorschulalter mit dem Titel „Bojcy vorošilovcy“ (deutsch etwa „Die Kämpfer Vorošilovs“, benannt nach Kliment Vorošilov, Verteidigungsminister der UdSSR 1925-1940). In Reim und Bild erfährt der kindliche Leser von der militärischen Stärke der Roten Armee, von der hohen Moral des sowjetischen Soldaten, seinem Kampfgeist und seiner Entschlossenheit, das Vaterland zu verteidigen. Spiel und Ernst, Kinder- und Erwachsenenwelt spiegeln sich und gehen ineinander über.
Es ist Zeit ins Feld zu ziehen -/ Verabschiede mich meine Schwester./ Egal, dass ich verwundet bin, / Dass mein Bein wehtut, – / Für einen Kämpfer der Roten Armee / Gehört sich’s nicht zu jammern! (Sergej Michalkov: Bojcy vorošilovcy. Moskva 1938. BSB-Signatur: L.sel.I 5062)
Keiner ist glücklicher als ich – / Man schenkte mir ein Pferd! / Nun ist es immer bei mir, / Mein Rappenfreund / Wenn plötzlich Krieg wird / Und in Gefahr das Land – / Sattele ich den Rappen, / Schlüpfe in die Steigbügel / Komme bei Budennyj [Kavallerist, Marschall der Roten Armee] angeritten: / – An Ihrer Seite möchte ich sein! (Sergej Michalkov: Bojcy vorošilovcy. Moskva 1938. BSB-Signatur: L.sel.I 5062)
Am 1. Mai – / eine Militärparade. / In den Himmel fliegt / Mein ältester Bruder / Er ist in unserer Luftwaffe – / ein Pilot / […] im Panzer / Mein mittlerer Bruder / […] Wie soll ich nicht stolz sein / Auf meine Brüder? (Sergej Michalkov: Bojcy vorošilovcy. Moskva 1938. BSB-Signatur: L.sel.I 5062)
Dass die Herausgabe dieses Büchleins auf der politischen Agenda stand, belegt schon die Tatsache, dass es vom Kinderbuch-Verlag des Zentralkomitees des Komsomols, der allsowjetischen Jugendorganisation der Kommunistischen Partei der UdSSR publiziert wurde. Und zwar – glaubt man den Angaben im Impressum – in einer Auflage von über einer halben Million Exemplaren!
Auch die beiden Autoren, der prominente proletarische Kinderbuchillustrator Ivan Kuznecov (1908-1987) und der hochdekorierte Staatsdichter Sergej Michalkov (1913-2009), galten als politisch zuverlässig. Michalkov war Mitverfasser des Textes der sowjetischen Staatshymne (1944-1991) und alleiniger Autor des neuen Textes der seit 2000 gesungen wird.
Tschechoslowakei 1938
1938, im Jahr des Münchner Abkommens und der anschließenden Zerschlagung der Ersten Tschechoslowakischen Republik, erschienen in Prag zwei Kinderbücher, die mit gleichen Mitteln verfahren und das gleiche Ziel vor Augen haben: bei dem kleinen Leser die patriotische Begeisterung für das Militär zu wecken.
Rudolf Vlasák: Vojáci, hoši malovaní. Verše pro československou mládež. Praha 1938. BSB-Signatur: 81.98426 Rudolf Vlasák: Splněná touha: Příběh jedné třídy. Praha 1938. BSB-Signatur: 81.96962
In dem an kleinere Kinder gerichteten Versbuch „Vojáci, hoši malovaní: Verše pro československou mládež“ (deutsch „Soldaten, Burschen wie gemalt: Verse für die tschechoslowakische Jugend“) lautet etwa das Gedichtchen zum Thema Panzer dann folgendermaßen:
Feinde fürchten wir nicht, / keine Angst machen uns Drohungen! / Einen guten Dienst wird uns erweisen / ein Panzerregiment. / Im schweren Panzer mit Maschinengewehren / oder einer Feldkanone, / möchte Jeník Skála [Hans Fels] dienen / mit ganzem Körper und ganzer Seele.
Rudolf Vlasák: Vojáci, hoši malovaní: Verše pro československou mládež. Praha 1938. BSB-Signatur: 81.98426
Wie eine Staatsbürgerkunde für größere Kinder liest sich das Buch mit dem Titel „Splněná touha: Příběh jedné třídy“ („Erfüllte Sehnsucht: Geschichte einer Klasse“). In eine schulische Rahmenerzählung eingeflochten, wird die Geschichte der Tschechoslowakei geschildert, wobei dem Militär eine überaus wichtige Rolle zukommt: Es stand Pate bei der Geburt der Republik und es beschützt sie vor dem äußeren, nach ihrer Vernichtung und Unterjochung trachtenden Feind.
Rudolf Vlasák: Splněná touha: Příběh jedné třídy. Praha 1938. BSB-Signatur: 81.96962
Alle Staatsbürger haben ihre Pflichten, aber eine haben sie alle gemeinsam. Es ist die schwerste, aber die ehrenhafteste, die Pflicht der Verteidigung des Landes, der Rechte und der Freiheiten des Volkes. Fast rundherum sind wir umgeben von Feinden, die uns gerne unterwerfen möchten. Sie wissen, dass das Land fruchtbar ist, dass die Tschechoslowaken ein fleißiges und gebildetes Volk sind. Sie möchten uns deshalb unterwerfen, möchten uns zurück der Botmäßigkeit zuführen, von der wir uns am achtundzwanzigsten Oktober des Jahres achtzehn befreiten. […] Unsere Ämter antworteten auf die durchsichtigen Pläne unserer Feinde mit dem Aufbau, Bewaffnung und Versorgung einer Armee. Die Feinde erschraken und verloren den Mut zum Angriff. Sie wissen wohl, dass unsere Armee ein Fels ist, an dem die Wogen ihrer Bosheit zerschellen würden. (Rudolf Vlasák: Splněná touha: Příběh jedné třídy. Praha 1938, S.14 und 96. BSB-Signatur: 81.96962)
Oben der erste (1918-1935) und der zweite (1935-1938) tschechoslowakische Präsident, T. G. Masaryk und Edvard Beneš, unten die Losung „Budovat a bránit“ [„Aufbauen und verteidigen!“]. Rudolf Vlasák: Splněná touha: Příběh jedné třídy. Praha 1938. BSB-Signatur: 81.96962
Beide Kinderbücher, „Vojáci, hoši malovaní“ und „Splněná touha“, verfasste Rudolf Vlasák (1888-1938), Autor vieler Romane aus der Welt der Tschechoslowakischen Legion (1914-1920), in deren Reihen er diente. Dem offiziellen Gründungmythos zufolge setzte sich der im In- und Ausland agierende politische Widerstand für die Unabhängigkeit ein. Tschechen und Slowaken kämpften als Freiwillige an den Fronten des Ersten Weltkrieges mit dem Ziel, die militärische Niederlage des Habsburgerreiches zu beschleunigen. In „Splněná touha“ heißt es:
Um den Führer des tschechoslowakischen Widerstandes versammelten sich viele Männer, die entschlossen waren für das Volk und das Land die Freiheit zu erkämpfen, Helden-Legionäre reihten sich unter Fahnen, die sie bei Zborov, Terron, Dos’Alto und anderswo mit unvergänglichem Lorbeer schmückten.
1938, auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise, achteten die tschechoslowakischen offiziellen Stellen peinlich genau darauf, durch keinerlei Äußerungen, die von Hitler als provokant empfunden werden könnten, zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen und die ohnehin zum Bersten angespannte Situation noch zu verschärfen. Von der Zensur wohl geduldet, sind beide Bücher am Rande der Aufmerksamkeit, in einem kleinen Verlag und vermutlich in keiner allzu hohen Auflage erschienen.
Sowjetunion 1942-1943
Begnügte man sich vor dem Krieg weitgehend mit der Hervorhebung der eigenen Stärke und Tugenden angesichts eines abstrakten oder wenigstens nicht direkt beim Namen genannten Feindes, so wird nach dessen Ausbruch der Ton zunehmend rau, die Klischees offen abwertend und beleidigend. Der Feind bekommt einen Namen und ein Gesicht. Er ist dumm, hässlich, gierig, feige, brutal, er verdient kein Mitleid sondern den Tod. Man selbst ist klug, tapfer, schnell, gerecht aber – hart! Der kleine Junge, der 1938 noch in seinem Kinderzimmer Soldat nur spielte, kann sich jetzt bewähren.
Eine Schmiede propagandistischer Kinderliteratur war in den Jahren 1942-1943 die Hauptstadt Georgiens Tbilisi. Im Georgischen Staatsverlag für Kinder- und Jugendliteratur sowie im Verlag des georgischen Ablegers der Kunststiftung des Künstlerverbands der UdSSR erschien eine Reihe dünner illustrierter, meist querformatiger Oktavbändchen für kleine Kinder, oft mit parallelem georgischem und russischem Text. Wenn darin der „Fritz“ – wie man die deutschen Soldaten gemeinhin nannte – bei der Entenjagd von sowjetischen Kleinpatrioten gefangengenommen wird, so ergeht es ihm noch vergleichsweise gut. Seine Kameraden lassen sich nämlich aus Gier und Blödheit von Bienen zu Tode stechen. Oder, wie es einem deutschen Motorradkurier erging, sie werden von kleinen Pionieren mit geistesgegenwärtig improvisierten Draht-Fallen in voller Fahrt geköpft, wodurch die Partisanen an kriegswichtige Informationen gelangen.
Hände hoch! – schreien die Jungs, / […] Ohne Hose fiel der Verfluchte / In die starken Hände der Burschen. (L. Gil’čevskaja, K. Kaladze: Utka podvela [Der Streich der Ente]. Tbilisi 1942. BSB-Signatur: Res/81.98108)
Der Fritz schwoll an und wurde krank / Und gegen Morgen starb er / Vom Bienengift. / Recht geschieht dem Dieb! (G. Nadarejšvili: Fric na pčel’nike. Tbilisi 1942. BSB-Signatur: Res/81.98107)
In „Pionero, mogvec‘ litoni!“ („Pionier, sammle Metall!“) von 1942 wiederum findet die kriegsbedingte sowjetische Umkehrung des alttestamentlichen „conflabunt gladios suos in vomeros et lanceas suas in falces“ („Schwerter zu Pflugscharen“ war die Losung der DDR-Friedensbewegung) statt:
In einem anderen Büchlein mit dem Titel „Avi ġlavi“ [„Der böse Wels“] wird Hitler als ein Fisch karikiert, dem es zum Verhängnis wird, dass er in seiner maßlosen Gier eine sowjetische Wassermine zu verschlucken versucht.
„Avi ġlavi“ wurde von Grigol Abašije (Abaschidze) (1914-1994) geschrieben und 1943 im gleichnamigen Verlag der Zeitung „Literatura da chelovneba“ („Literatur und Kunst“) des Georgischen Schriftstellerverbandes publiziert, dessen Vorsitzender der patriotische Dichter und stalinpreisdekorierte Romanautor 1967 werden sollte. Und, wie auch der eingangs erwähnte Sergej Michalkov, war er Mitautor des Textes der Nationalhymne, in diesem Fall der Georgischen SSR (1946-1991). Die Illustrationen zeichnete der Künstler Samson Nadarejšvili (1895-1977), der sich während des Krieges verstärkt der militärisch-patriotischen Propaganda zuwandte.
Jugoslawien 1944-1945
Auf dem Gebiet des von den Deutschen, Italienern und Ungarn besetzten und aufgeteilten Jugoslawiens leisteten zahlreiche Partisanengruppen bewaffneten Widerstand. Sie kontrollierten mitunter große Gebiete in denen sie eine eigene Verwaltung und Infrastruktur mit Post, Banken, Krankenhäusern, Druckereien, Schulen etc. unterhielten. Eine Lesefibel in zwei Sprachvarianten – einer kroatischen („Početnica“) in lateinischer und einer serbischen („Bukvar“) in kyrillischer Schrift – aus einer Untergrunddruckerei der Partisanen aus dem Jahr 1944 zeigt, dass auch ihre Pädagogen im Umgang mit den kriegsbedingten Stereotypen keineswegs zimperlich waren.
Das lässt sich auch über die erste slowenische Nachkriegsfibel sagen, die pünktlich zum Schulanfang Ende Sommer 1945 vom Bildungsministerium in Ljubljana herausgegeben wurde. Der Verfasser Vinko Möderndorfer (1894-1958) war ein slowenischer Pädagoge, der bereits in der Vorkriegszeit ein Erstlesebuch publizierte. Während des Krieges schloss er sich den Partisanen an, slawisierte seinen deutschen Nachnamen Möderndorfer in Modrinjavesčan (Modrinja Ves ist der slowenische Name von Möderndorf in Kärnten) um und arbeitete als Mitglied einer pädagogischen Kommission der Partisanen ab 1944 an der neuen Fibel. Das in Mitarbeit mit namhaften Künstlern entstandene Ergebnis hatte es jedenfalls in sich. Unter einem beschaulichen Deckel verbargen sich Bilder von Verhaftungen, Folterungen und Erschießungen durch die faschistischen Besatzer und ihre einheimischen Handlanger, zu denen die ABC-Schützen das Lesen erlernen sollten. Nach Triest rollende Panzer mit rotem Stern, den Feind tötende Gewehre und Bomben, über tote, auf einer blutlachenähnlichen Hakenkreuzfahne liegende deutsche Soldaten triumphierende Partisanen – die brutale und tendenziöse Schwarz-Weiß-Darstellung der Kriegsgreuel und die enthaltenen politischen Botschaften waren dann doch mit dem Nachkriegslehrplan für erste Klassen offenbar nicht mehr vereinbar. Das Schulbuch wurde kurz nach dem Erscheinen 1945 aus dem Verkehr gezogen und die restliche Auflage vernichtet1).
Wesentlich mehr Fingerspitzengefühl bewies man beim Konzipieren einer Lesefibel für die Erstklässler in den mehrheitlich italienischsprachlichen Gebieten, die nun faktisch von Jugoslawien einverleibt wurden. In der 1945 von der Union der Italiener Istriens und Rijekas herausgebrachten Fibel mit dem Titel „Primo anno di scuola“ herrschen Themen und Realien einer friedlichen Kindeswelt vor. Politische Botschaften werden zurückhaltend, integrierend und nicht ausgrenzend formuliert, Kriegsbilder und –requisiten fehlen vollständig. Die Partisanen schwingen jugoslawische, italienische und sowjetische Fahnen und demonstrieren Stärke und Einigkeit. Den Italienern Jugoslawiens wird weder die Kollaboration mit Mussolini vorgeworfen noch sind sie Staatsfeinde ähnlich den Sudetendeutschen in der Nachkriegstschechoslowakei. Als eine nationale Minderheit auf Augenhöhe mit den Kroaten, Serben, Slowenen, Montenegrinern und Makedoniern leisteten sie vielmehr ihren ehrenhaften Beitrag zum jugoslawischen Volksbefreiungskampf. Der Feind war der Faschismus und die Deutschen.
Alle Titel können über den OPAC in einen der Sonderlesesäle der Bayerischen Staatsbibliothek bestellt werden.
Filip Hlušička
1) Vinko Möderndorfer (1894-1958) – Slovenian teacher, ethnographer, political activist and author of primers. In: Reading Primers International (RPI), Nr. 11, 2015 (pdf)